Die Erde ist keine Scheibe
Vor ein paar Tagen hatte ich die Nachrichten gesehen und dann einerseits beruhigt, aber dann genauso auch sorgenvoll festgestellt, dass es auch andere Themen als Corona gibt.
Es ging dabei um die Geberkonferenz der Vereinten Nationen für den Jemen. In den Nachrichten sah ich UN-Generalsekretär António Guterres, der sich im Anschluss bestürzt über das viel zu niedrige Ergebnis zeigte. Denn in diesem Jahr kamen von den 3,8 Mrd. Dollar benötigten Spenden gerade einmal 1,7 Mrd. Dollar zusammen – weniger als die Hälfte. Ich kann nur erahnen, wie er sich dabei gefühlt haben muss, denn mit der Bekanntgabe des Spendenergebnisses verkündete Guterres gleichzeitig unfreiwillig das Todesurteil für Millionen von Menschen im Jemen.
Der Bürgerkrieg im Jemen ist die größte humanitäre Katastrophe der Welt, begann 2015 und dauert damit bereits seit sechs Jahren an. Die dortige Regierung kämpft, unterstützt von Saudi-Arabien und anderen Ländern, gegen die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen. Zehntausende Menschen wurden bereits getötet, Millionen mussten flüchten. Der Jemen galt schon davor als ärmstes Land der arabischen Halbinsel. Aufgrund des Krieges und seiner Folgen sind mittlerweile rund 80 Prozent der 30 Millionen Einwohner im Jemen auf humanitäre Hilfe angewiesen: mehr als 24 Millionen Menschen, 12 Millionen davon sind Kinder. „Zwei von drei Menschen im Jemen benötigen Nahrungsmittelhilfe, medizinische Versorgung oder andere lebensrettende Unterstützung durch humanitäre Organisationen“, berichtet die UN. Um die Kosten für die humanitäre Hilfe zu stemmen, wird jährlich die Geberkonferenz der Vereinten Nationen einberufen. Leider mit sinkendem finanziellen Engagement der Geberländer.
Ich frage mich: In was für einer Welt leben wir, in der die amerikanische Bank JP Morgan Chase im Jahr 2020 einen Nettogewinn von knapp 30 Mrd. Dollar macht und im Jemen parallel Menschen verhungern, weil dort für Wasser und Nahrung 2,1 Mrd. Dollar fehlen? Wie kann es sein, dass Daimler das Corona-Krisenjahr mit einem Gewinn von vier Milliarden Euro abschließt und rund 1,4 Mrd. Euro als Dividende an die Aktionäre ausschüttet, zuvor aber staatliche Unterstützung verlangt? Nur zwei Beispiele, von denen es so viele gibt.
Wenn irgendwo auf der Welt Schlimmes passiert und die Menschen großes Leid erfahren, können wir nicht einfach in die andere Richtung blicken und hoffen, dass wir es nicht mitbekommen. Denn die Erde ist keine Scheibe, sondern rund und alles was auf ihr passiert, tangiert uns ebenso und fällt nicht einfach am anderen Ende herunter. Auch wenn viele sich das vielleicht wünschen, wenn sie z. B. unseren Müll exportieren, um diesen nicht „vor der Haustür“ liegen zu haben.
Unseren deutschen Elektroschrott verschiffen wir containerweise nach Afrika. In Agbogbloshie, einem Slum am Rande der Hauptstadt Accra in Ghana liegt eine der größten Elektroschrott-Müllkippen der Welt. Röhrenfernseher, Computer und Handys, die für uns nichts mehr wert sind, werden illegal einfach abgeschoben. Die dort lebenden Menschen schmelzen Kabel und Verkleidungen der Altgeräte, um an die verbauten Rohstoffe zu kommen, aus denen sie noch Geld machen können: Aluminium, Eisen und Kupfer. Dabei setzen sie ihre Gesundheit aufs Spiel und schädigen die Umwelt immens. Jeden Tag kommen 170 nicht mehr gebrauchte Fernseher in Afrika an. Und was tun wir? Wir sind stolz, dass wir unseren Müll zu Hause ordentlich trennen.
So wenig wie das Corona-Virus Halt vor Landesgrenzen macht, ebenso wenig bleibt Umweltverschmutzung am anderen Ende der Welt. Selbstverständlich holt uns das, was wir heute irgendwo auf der Welt zulassen, irgendwann wieder ein – und zwar direkt vor unserer Haustür. Wir wissen, dass wir eine Verantwortung haben, doch kommen wir dieser scheinbar nur für uns selbst nach. Dabei sind wir auf alle Länder dieser Welt angewiesen. Europa ist der Kontinent, der am stärksten davon abhängig ist, Landflächen andere Länder zu nutzen. Somit ist klar: Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die der anderen!
Ja, uns alle beschäftigt aktuell maßgeblich die Corona-Pandemie. Dennoch haben wir es in der Hand, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, auch andere Themen zu sehen, auf Missstände aufmerksam zu machen und entsprechend zu handeln. Natürlich kann nicht jeder von uns gleich Milliarden spenden, aber Engagement fängt im Kleinen an. Ich z. B. schreibe gerade diesen Blogbeitrag und denke an die vielen nationalen und internationalen Projekte, die wir mit der Kreishandwerkerschaft Steinfurt-Warendorf bereits erfolgreich zu den Themen Bildung und Ausbildung umgesetzt haben – nicht zuletzt, um damit die Welt etwas besser zu machen.
In Afrika pflegen wir z. B. gleich zwei Berufsbildungspartnerschaften. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als ich im Oktober 2017 unser „Center of Excellence“ in Südafrika eröffnet habe. In meiner Eröffnungsrede habe ich mit Blick auf die Zukunft wörtlich gesagt „… und wenn wir nur einen Jugendlichen von der Straße holen und eine Zukunft geben, dann hat sich für mich der Einsatz bereits gelohnt.“ Stand Ende 2020 befinden sich rund 190 Jugendliche in der Ausbildung in unserem dortigen Berufsbildungszentrum. Es hat sich demnach schon 190 Mal gelohnt! In Mosambik haben wir seit 2019 die zweite, vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderte Berufsbildungspartnerschaft in Afrika. Dort arbeiten wir mit der Associação Moçambicana de Energias Renovavais (AMER), einem Verband lokaler Unternehmen für erneuerbare Energien, zusammen, um vor allem Techniken der erneuerbaren Energien in die Ausbildung vor Ort zu implementieren.
Nahezu alle Probleme in unserer Welt, ob Umweltzerstörung, fehlende Bildung oder Krieg, sind menschgemacht. Deshalb können nur wir als Menschen diese Probleme wieder in den Griff bekommen. Dafür braucht es Einsicht, Rücksichtnahme, die Übernahme von Verantwortung, aber vor allem geschlossenes Auftreten, um die Dinge zu verändern und wieder in Ordnung zu bringen. Wenn wir in Deutschland in Zeiten der Corona-Pandemie jammern, dass wir keine Zukunft haben, dann ist das mehr als „auf hohem Niveau“, nämlich ein Schlag ins Gesicht eines halb verhungerten Kindes im Jemen, das tatsächlich keine Zukunft hat.
Und wenn die Erde wirklich eine Scheibe wäre, hätten wir sie ganz schön in Schieflage gebracht. Höchste Zeit, das zu korrigieren!
Ihr Frank Tischner