Aussteigen

Manchmal ist es an der Zeit, aus gewohnten Mustern auszusteigen. Dieses Aussteigen heißt jedoch nicht panisch die Notbremse zu ziehen, sondern geplant und vorausschauend bewusste Entscheidungen zu treffen. Natürlich muss man sich einen solchen Schritt wohl überlegen, denn das Warum ist ausschlaggebend: Wo will ich hin? Wofür mache ich das? Nur mit diesem Selbstbewusstsein kann man sich gegen all die behaupten, die den Status quo bis in alle Ewigkeit beibehalten wollen.

Apropos Ewigkeit: Gehen wir doch gedanklich einmal einige Schritte zurück. Haben Sie früher als kleines Kind oder vielleicht später als größeres Kind mit der Modelleisenbahn gespielt? Das Weichenstellen gehört dabei zum A und O, damit der Zug nicht immer nur stumpf im Kreis fährt. Und wenn man sieht, dass man auf ein Gleisende zusteuert, ist es erforderlich, ein Stück zurückzusetzen, um dann mittels Weiche eine andere Richtung einzuschlagen. Was uns als Kindern wie selbstverständlich gelang, fällt uns als Erwachsenen so viel schwerer. Ob Richtungswechsel oder sonstige Veränderung – die Begeisterung hält sich in Grenzen. Wenn sich erst einmal etwas eingeschlichen hat, wird es immer schwieriger, es sich abzugewöhnen und sich überhaupt vorzustellen, dass es auch anders gehen könnte. Der viel zitierte Klassiker „Das haben wir immer so gemacht“ trifft häufig auf „Das haben wir vor Jahren schon versucht, hat nicht geklappt“ – Thema erledigt. Aber vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt es noch ein weiteres Mal zu versuchen und möglicherweise funktioniert es?

Durchziehen um jeden Preis

Warum nicht mal die Richtung wechseln? Irgendwie habe ich immer mehr das Gefühl, heutzutage müssen wir unbedingt alles irgendwann einmal Angefangene durchziehen. Wer zum Beispiel im Studium bereits im ersten Semester merkt, dass Jura doch nichts für einen ist, sollte lieber keine Zeit verschwenden und sich bis zum Staatsexamen quälen, um viele Jahre später unglücklich zu scheitern. Wie viele Studenten entscheiden sich für einen Studienausstieg und finden ihre Leidenschaft im Handwerk? Ich kenne einige von ihnen und ausnahmslos alle fühlen sich im Handwerk wohl und sind mit ihrer Entscheidung glücklich und zufrieden. Ist es nicht das, was zählt? Stattdessen halten wir immer noch viel zu viel an alten Glaubenssätzen der Gesellschaft fest. Etwas muss durchgezogen werden – koste es, was es wolle. Warum? Wem wollen wir damit etwas beweisen? Ein gesundes Maß an Resilienz ist wichtig, aber doch bitte nicht, wenn ich merke, dass ich mich verrannt habe.

Und viel wichtiger: Wo ist die Grenze? Sicher kennen Sie das Foto aus dem Jahr 2019, auf dem sich eine Menschenkette von Bergsteigern im Stau auf dem Mount Everest befindet. Jeder Einzelne von ihnen wollte den berühmten Achttausender besteigen und viele zahlten 11.000 Dollar für ihre Expedition und die Erlaubnis, auf den Gipfel zu steigen. Doch neben Müllbergen, verursacht durch die Massen, führt der Weg auch an denen vorbei, die es nicht geschafft haben. Lange Wartezeiten führen immer wieder dazu, dass Menschen in der Höhenluft zusammenbrechen und im Eis liegengelassen werden, ehe sie aufwendig geborgen werden können. Doch wer nur den Gipfel vor Augen hat, schaut beim Klettern nicht auf die Leichen unter den eigenen Füßen. Ein makabres Beispiel für unser Durchziehen um jeden Preis.

Fehler und Folgefehler

Wir alle erinnern uns an den Rechenweg im Matheunterricht, bei dem wir uns einmal am Anfang vertan und dann völlig überzeugt weiter falsch gerechnet haben: der klassische Fehler mit Folgefehlern. Dieser findet sich z. B. auch in unserem Bildungssystem. Statt einen dringend notwenigen Reformwurf zu wagen, wird immer nur „verschlimmbessert“. Die Anforderungen der Wirtschaft haben sich kolossal verändert, wir lernen in unseren Schulen aber immer noch wie vor 60 Jahren. Gefordert sind auch heute noch Körper und Geist, das Handwerk lebt von der Motorik, vom Ausprobieren und von Praxis. In vielen Schulen dient der Körper aber nur noch dazu den Kopf von Klassenzimmer zu Klassenzimmer zu tragen. Folgefehler gefunden?!

Und auch in unserem Sozialsystem gibt es Folgefehler, denn 121,3 Mrd. Euro beträgt der jährliche Zuschuss für die Rentenversicherung. Auch hier ist dringend eine Reform nötig. Warum z. B. zahlen Beamte nicht in die Rentenversicherung ein? Themen, die die Politik dringend angehen muss. Doch wir alle wissen, dass vor den Wahlen nicht viel passiert, weil sich niemand mit einer politischen Entscheidung bei den Wählerinnen und Wählern unbeliebt machen möchte. Einmal gewählt, muss sich erst wieder sondiert und sortiert werden – das braucht mal mehr, mal weniger Zeit. Doch wie viel Zeit bleibt dann noch, um wirkliche Veränderungen anzugehen und Reformen umzusetzen? Und wer hat dann überhaupt den Mut dringende Reformen umzusetzen? Die Letzte Generation meint, uns bleibe nicht mehr viel Zeit und wird mit ihren Aktionen immer radikaler – aber das ist ein Thema für einen anderen Blogbeitrag.

Veränderung erfordert Mut

Nicht nur aus eigener Erfahrung mit der erfolgreich durchgeführten Umstrukturierung der Kreishandwerkerschaft weiß ich, dass es unbequem ist, etwas nicht mehr weiterzumachen wie bisher.

Manchmal ist dazu vielleicht ein Fehlereingeständnis der bisherigen Akteure nötig, doch der größere Fehler wäre, einfach weiterzumachen. Wird schon laufen? Sicher, aber in die gewünschte Richtung? Wohl kaum!

Noch ein letztes Beispiel? Gerne. An dieser Stelle schaue ich einmal auf meinen Wohnort Münster und die dort ansässigen Verwaltungen. Wenn ich samstags die Zeitung aufschlage und dort immer mehr Personalausschreibungen sehe, frage ich mich: Soll das die Lösung sein?! Stattdessen sollte mal selbstkritisch hinterfragt werden, welche Anpassungen vielleicht an der Struktur erforderlich sind, und ob wirklich alle Aufgaben notwendig oder schon längst nicht mehr zeitgemäß sind. So stelle ich mir jedenfalls eine moderne Verwaltung vor – zukunftsorientiert mit offenen Augen gestalten, statt mit Scheuklappen nur zu verwalten. Es können doch nicht immer mehr Personalstellen gefordert werden, die schließlich auch finanziert werden müssen. Denn was erleben unsere Mitgliedsbetriebe seit Jahren im Ergebnis? Immer mehr Bürokratie! Hier muss Deutschland dringend aussteigen, auch wenn es manchen schwerfällt.

Übrigens, auch mir fällt das Aussteigen manchmal schwer. Wie zuletzt bei meinem Besuch im Bällebad einer Kita, in der ich als Bauchredner mit meiner Handpuppe Jonas Kindern das Handwerk nähergebracht habe. Übrigens ein weiteres Beispiel für das Anderssein unserer Kreishandwerkerschaft. Oder kennen Sie noch einen Hauptgeschäftsführer, der sich selbst das Bauchreden beibringt und sich für mehr als 1.000 Kinder zum Kasper macht, aber mit dem Ergebnis diese 1.000 Kinder glücklich gemacht zu haben? Falls ja, freue ich mich darauf, einen Gleichgesinnten kennenzulernen. Falls nein, mache ich allein weiter, denn beim Anderssein steige ich ganz bestimmt nicht aus.

Ihr Frank Tischner