Die richtigen Vorstellungen

„Darf man in Deutschland am Sonntag laut Musik hören?“, „An welchen Tagen darf ich die Waschmaschine benutzen?“ und „Wie werde ich in Deutschland Pilot?“

Diese und viele weitere Fragen bekam ich von jungen Frauen und Männern aus Jordanien gestellt – Menschen, die im Rahmen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes für Menschen aus Drittstaaten eine Ausbildung in Deutschland anstreben. In meiner Tätigkeit als Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Steinfurt Warendorf konnte ich im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) aufgelegten Programms mit potenziellen Auszubildenden für unsere Innungsbetriebe vor Ort in Jordanien sprechen und ihre Beweggründe kennenlernen.

Ich habe Menschen kennengelernt, die aus unterschiedlichsten Gründen einen Neuanfang wagen wollen und vor einem unglaublich mutigen Schritt stehen. Menschen, die dafür oft alles in ihrer Heimat aufgeben und den Schritt in ein völlig neues Leben wagen. Dies verdient großen Respekt: Einige von ihnen lernen erst seit sieben Monaten die deutsche Sprache – manche sogar ein neues Alphabet. Ihre Motivation ist groß, doch nicht alle haben ein realistisches Bild von Deutschland. Während viele wirklichkeitsnahe Vorstellungen haben, gibt es auch viele Träume, die Deutschland ihnen nicht wird erfüllen können. Umso wichtiger, diese falschen Vorstellungen direkt aufzuklären. Wir möchten keine vielleicht lang gehegten Träume zerstören, sondern stehen für eine ehrliche und authentische Darstellung dessen, was Ausbildungswillige hier in Deutschland erwartet. Das ist nicht nur in ihrem Interesse, sondern auch unsere Verantwortung, die wir ernstnehmen. Denn in diesem Prozess begleiten wir Menschen – keine Waren, die einfach wieder zurückgeschickt werden können, sollte es doch nicht passen. Beide Seiten treffen Entscheidungen, die für die Zukunft entscheidend sind. Deshalb müssen wir Klartext sprechen – im gegenseitigen Interesse. Dazu gehört:

• Wer in Deutschland eine Ausbildung beginnt, unterschreibt einen Ausbildungsvertrag – unabhängig davon, ob er oder sie in Jordanien bereits einen Bachelor- oder Ingenieurabschluss hat. Eine Ausbildung bedeutet fachliches Lernen, persönliche Weiterentwicklung und die Akzeptanz der Rolle des Auszubildenden.

• Gleichberechtigung ist in Deutschland kein „Kulturthema“, sondern ein Recht. Wenn ein Teilnehmer sich nicht vorstellen kann, in Deutschland eine Vorgesetzte und deren Weisungen zu akzeptieren, dann sage ich lieber klipp und klar: Deutschland ist nicht das richtige Land für dich – ohne weitere Diskussion und vor allem mit einer deutlichen Ansprache, die oft ungewohnt ist. Aus falsch verstandener Höflichkeit um den heißen Brei herumzureden hilft niemandem. Nicht den 60 Damen und Herren, die sich in Jordanien auf eine Berufsausbildung vorbereiten, aber auch nicht den potenziellen Ausbildungsbetrieben hier.

• Junge Frauen – mit oder ohne Hijab – geben mir als Mann in Jordanien zur Begrüßung die Hand, andere legen die rechte Hand auf ihr Herz. In Deutschland sind jedoch andere Gepflogenheiten zur Begrüßung üblich, die sie kennenlernen und verstehen müssen.

Neben den kulturellen Unterschieden gibt es auch viele alltägliche Herausforderungen: Was kann ich in einem deutschen Supermarkt essen? Warum gibt es auf jedem Fest Alkohol? Warum kommen Senioren in ein Altenheim und bleiben nicht bis zum Lebensende in ihrer Familie?

Anpassung, nicht Selbstaufgabe

Wir verlangen nicht, dass die Teilnehmenden ihre Identität oder Kultur aufgeben. Doch sie müssen sich anpassen und integrieren. Stellen Sie sich vor, Sie ziehen nach Japan. Und noch am Flughafen wird von Ihnen erwartet, ab sofort nur noch japanisch zu sprechen, sich nur japanisch zu kleiden und alles aus Ihrem bisherigen Leben zu vergessen. Das wäre unmöglich. Genau deshalb setzen wir mit unserem Programm auf drei Grundprinzipien:

1. Die Sprache lernen – als Schlüssel zu allem
2. Regeln und Gesetze des Landes akzeptieren – ohne Kompromisse
3. Sich integrieren, aber man selbst bleiben dürfen – denn Anpassung bedeutet nicht Selbstaufgabe.

Dieser Spagat zwischen Förderung und Forderung, zwischen Unterstützung und Ehrlichkeit, ist nicht einfach – aber wir nehmen ihn gern auf uns. Zugegeben: Die Arbeit mit diesen jungen Menschen ist eine der anstrengendsten Aufgaben meines Berufslebens, die mich zugleich sehr erfüllt. Wir engagieren uns mit viel Energie und Herzblut, weil wir überzeugt sind: Gute und motivierte Auszubildende sind für unser Handwerk essenziell. Und wir möchten unseren Betrieben helfen, diese wertvollen Nachwuchskräfte verantwortungsvoll auszubilden. Und dazu gehört dann eben auch, dass wir ein Fahrradtraining durchführen, damit Menschen, die in ihrer Heimat nie Fahrrad gefahren sind, sich sicher im Straßenverkehr bewegen können, um in Deutschland weiter voranzukommen.

Ihr Frank Tischner