Wie viel Mensch vertragen wir?

Zwei Ereignisse möchte ich zum Anlass nehmen, um den neuen Blog unter das Thema „Wieviel Mensch vertragen wir?“ zu setzen. Das eine war ein Treffen mit dem Philosophen Richard David Precht, das andere war ein Zeitungsartikel über eine junge asiatische Youtuberin.

Fangen wir, Ladies first, mit der Youtuberin an. Ich gehe davon aus, dass Sie die junge Dame nicht kennen, und ich muss gestehen, bis zu ihrem Fauxpas kannte ich sie auch nicht. Was war passiert? In China ist Live-Stream bei z.B. Karaoke-Singen bereits eine Art Volkssport geworden, mehr als 425 Mio. Menschen machen dort mit. Eine von ihnen war „Ihre Hoheit – Qiao Bilou“, eine Bloggerin, die von den Fans auch „süße Göttin“ genannt wird. Sie begeistert ihre Fans mit ihrem jugendlichen Aussehen und ihrer zarten Singstimme. Allerdings ahnte keiner, wie sie wirklich aussieht, denn sie verschönerte sich stets mit einem technischen Gesichtsfilter. Und dann passierte das, was passieren musste. Während eines Live-Streams gab es eine technische Panne, die Biluo ganz schön alt aussehen ließ, denn es kam ein komplett anderes Gesicht zum Vorschein. Nach der Enthüllung verschwand die Bloggerin von der Bildfläche, vor allem die männlichen Fans wanderten ab. Der Medienrummel hat wieder ein paar Leute als Follower zurückgespült, darum geht es aber auch nicht, oder vielleicht doch?

Worum geht es uns in der heutigen Welt, um die Anzahl von Followern, um ein digitales Schönheitsideal, um austauschbare Personen und Gesichter? Oder geht es uns noch um uns Menschen mit allen Ecken und Kanten?

Wenn ich mir ansehe, wofür es heute schon alles eine App gibt, man kann sich nur noch wundern und fragen, wie wir vorher ohne diese technischen Gimmicks zurechtgekommen sind. Meiner Meinung nach verschwindet immer mehr die Grenze zwischen dem, was uns als Individuum ausmacht, den menschliche Beziehungen und dem technischen Mainstream. An einigen Stellen verlieren die menschlichen Beziehungen ihren organischen Zusammenhalt und werden bewertet wie die „features“ bei der Konfiguration eines neuen Autos. Anstatt dem Zauber des Zufalls auf uns wirken zu lassen und zu finden, lassen wir auswählen. Und wenn es nicht passt, dann bleibt die Bindung auf der Strecke. Die Wechselbereitschaft wächst bei Stromkunden, Mobilfunkanbietern oder Wählern, warum nicht auch bei Partnerschaften? Eine Eigenschaft des Internets ist die Logik des ständigen Vergleichens, wir sind immer wieder auf der Suche nach was „Besserem“. Nur wer beantwortet uns die Frage, was ist „Besser“? Ist es nicht eine theoretische Version, der wir hinterherlaufen wie der Esel der Karotte an der Angel? Das Problem ist, dass dieses Vorgehen uns in unserer Geisteshaltung massiv verändern wird.

Restaurants, Musik, Kühlschränke, Bücher, Filme werden genau wie Menschen mit „Sternchen“ oder „Gefällt-mir“-Buttons bewertet. Anstatt in den Spiegel zu blicken, sind wir mittlerweile soweit, dass wir per App unseren Body-Mass-Index berechnen. Nur, der Pakt mit der Technik ist keine Einbahnstraße. Die andauernde Optimierung ignoriert die aufregenden Umwege des Lebens und reduziert unsere Vielfalt auf eine optimierte Einfalt.

Wir betrachten unsere Welt zunehmend durch eine ökonomische und benebelte Brille, Firmen wie „Google“ sind hungrig auf den Markt und unsere Daten. Das Problem wird nicht der technische Fortschritt sein, sondern die Macht der Konzerne und dass der technische Fortschritt nicht auf demokratischen Weg erzeugt wird, sondern von kommerziellen Unternehmen. Wir haben es mit digitalen Supermächten zu tun, denen es völlig egal sein wird, wie sich europäischer Datenschutz darstellen wird, wer Präsident in den USA ist und wer nächste*r Regierungschef*in sein wird. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht gegen den Fortschritt, ich bin lediglich gegen eine Art der technokratischen Diktatur und der fehlenden Solidarität dieser Konzerne. Mit Blick auf unseren Mittelstand: Wer bezahlt denn in Deutschland treu und brav seine Steuern und Abgaben, wer stärkt die Kommunen und engagiert sich ehrenamtlich,  und wer bitteschön flüchtet vor den deutschen Steuergesetzen ins Ausland und verschiebt die Gewinne so hin und her bis in Deutschland nichts mehr davon übrig bleibt? Diesen Punkt würde ich gerne in der politischen Diskussion platziert wissen.

Und nun komme ich zu meinem Treffen mit Richard David Precht. Er beschrieb in seinem Vortrag die Folgen der Digitalisierung für den deutschen Arbeitsmarkt als dramatisch. Aus seiner Sicht werden Jobs, die auswechselbar sind und demnächst von Maschinen oder Computern gemacht werden, wegfallen. Nicht so beim Handwerk oder Berufen mit einem hohen Empathie-Wert. Hier sieht man, dass der Spruch „Handwerk hat goldenen Boden“ auch bei den Philosophen angekommen ist. Warum werden diese Berufe nicht wegfallen?  Und da sind der Philosoph und der gelernte Bäcker und Konditor einer Meinung: Weil diese Berufe individuell, von einer hohen Fachlichkeit geprägt und nah am Menschen sind, halt mit Empathie. Gleiches gilt in seinem Beispiel für die Kindergärtnerin. Natürlich gäbe es schon die technischen Möglichkeiten, Maschinen, die wie Teddys aussehen und große Kulleraugen haben, in der Kinderbetreuung einzusetzen. Nach fünf Fragen brauchen die Kinder nicht einmal mehr die sechste Frage zu stellen, weil sich unser „Plüschi“ anhand von Algorithmen ein System entwickelt hätte, was dann genau weiß, was Lisa und Max als nächstes fragen werden. Warum, werden Sie fragen, setzt man diesen Teddy denn dann nicht ein, wäre doch super? Die Elternabende würden geschmeidiger laufen, da man nicht mit der armen Kindergärtnerin diskutieren muss, warum sie den aus Sicht der Eltern 20 hochbegabten Kindern nicht endlich Mandarin beibringt, sondern sie „nur“ beim Spielen beaufsichtigt. Die gute Maschine wird diesen Kindern aber nicht den Zusammenhalt und die Auseinandersetzung in der Gruppe beibringen können und die Zu- oder auch Abneigung der Kinder untereinander aushalten zu üben – halt das wahre Leben.

Hier schließt sich wieder der Kreis zum Handwerk. Natürlich geht es bei den Betrieben auch um Umsatz und Gewinn, aber noch auf einer völlig anderen Ebene als bei den Google´s dieser Welt. Das Handeln, Arbeiten und die Verantwortung in und für die Region, für die Menschen –  dies steht im Mittelpunkt unserer Arbeit. Dafür brauchen wir keinen technischen Gesichtsfilter, sondern Menschen mit Ecken und Kanten. Darum, herzlich Willkommen im Handwerk! Wir freuen uns auf eine digitale Zukunft.

Ihr

Frank Tischner

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