Wir sind es ihnen schuldig
Wir befinden uns im Endspurt. Die Europawahl ist am kommenden Sonntag, und wir stehen vor wichtigen Entscheidungen. Vielleicht sind einige Menschen der Meinung: „Ob ich zur Wahl gehe oder nicht, das spielt doch keine Rolle.“ Das ist aber definitiv nicht der Fall. Es geht mit dem Kreuz auf dem Stimmzettel um die Zukunft Europas, um eine tragende Gemeinschaft und um Frieden. Die EU ist alles andere als nebensächlich. Sie trägt eine ganz entscheidende Rolle zu einem dauerhaft friedlichen und freundschaftlichen Miteinander bei. Und das schon über einen sehr langen Zeitraum.
Blicken wir zurück: Vor rund 100 Jahren, nach dem ersten Weltkrieg, nahm der Antisemitismus in vielen europäischen Staaten aufgrund verschiedener Krisen und dem Erstarken des Faschismus enorm zu. Insbesondere in Deutschland wurden jüdischen Bürgern die Schuld für Kriegsfolgen und wirtschaftlicher Misere gegeben und ihre Bürgerrechte erheblich eingeschränkt. Sie wurden nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verfolgt und auf barbarischste Art getötet. Millionen Menschen verloren im Dritten Reich ihr Leben. Vor allem jüdische Menschen in Europa waren die Opfer.
Wie durch ein Wunder hat die heute 97-jährige Margot Friedländer den Holocaust überlebt. Sie wurde als Kind im Januar 1943 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Ihre Eltern und ihr Bruder sind von den Nazis ermordet worden. 1946 reiste sie als junge Frau, ohne Familie, per Schiff in die USA und baute sich dort ein neues Leben auf. Mit 88 Jahren kam sie aus den USA zurück nach Berlin und sucht seitdem das Gespräch mit jungen Menschen, um von dem Schrecken der Nazi-Diktatur zu berichten, dem ihre ganze Familie zum Opfer fiel.
Margot Friedländer ist in das Land der Mörder ihrer Familie zurückgekehrt. Am 14. Mai 2019 erhielt sie in Berlin den „Talisman“ der „Deutschlandstiftung Integration“. Sie wurde für die Verdienste und ihre ehrenamtliche Arbeit geehrt. Margot Friedländers Buch trägt den Titel „Versuche Dein Leben zu machen‟. Der Titel ist der letzte Satz ihrer Mutter, bevor sie umgebracht wurde. Geblieben ist Frau Friedländer als Andenken an ihre Mutter dieser Satz und eine Bernsteinkette, die sie bis heute immer noch trägt. Für mich ist Frau Friedländer trotz ihrer zierlichen Gestalt eine Persönlichkeit unbeschreiblicher Größe. Sie lebt Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, Einheit in Vielfalt ist ihr Motto. Die Vitalität und Kraft zur Vergebung ist beeindruckend. Wenn ich mir vorstelle, welchen Preis Margot Friedländer für ein freies Leben zahlen musste, wird mir bewusst, wie gut wir es haben. Ich möchte eine nationalsozialistische Zeit nicht erleben.
Aus Völkermord der Nazis wurden viele Lehren gezogen. Die wohl wichtigste ist vielleicht die, die in unserem Grundgesetz an erster Stelle steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Diesen Grundsatz müssen wir bewahren. Aber Vorsicht: er ist sehr zerbrechlich und verletzlich wie die plurale und demokratische Gesellschaft selbst. Heute gibt es wieder mehr Anlass zur Sorge in Europa und der ganzen Welt. Der Handelskrieg zwischen den USA und China, der immer noch nicht abgeschlossene „Brexit“, die aktuellen politischen Ereignisse in Österreich – sie alle zeigen, dass in einer Zeit des aufblühenden Nationalismus und Unilateralismus der Gedanke einer europäischen Union in Gefahr ist.
Natürlich sind für kleine mittelständische Unternehmen die bürokratischen Auflagen aus Europa oft belastend, und die Kreishandwerkerschaft Steinfurt-Warendorf arbeitet im Sinne der Betriebe gegen den Dschungel aus Paragraphen und bürokratischen Hürden. Nur diese Belastung darf uns nicht den Blick auf den Mehrwert von Europa versperren. In den Fragen, Sicherheit, Migration, internationaler Wettbewerb, Klimawandel, benötigen wir ein starkes und sicheres Europa. Die europäische Einigung hat nicht nur freien Handel und Wohlstand gebracht, sondern vor allem auch andauernden Frieden und umfassende Freiheit geschenkt. Diese unschätzbaren Werte müssen wir stärken und sichern.
Als Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Steinfurt-Warendorf spreche ich mich für ein freies Europa aus, in dem unsere Kinder in Frieden leben können. Sorgen wir am 26. Mai bei der Europawahl dafür, dass es so bleibt. Machen Sie das Kreuz für Freiheit, Demokratie, Toleranz und ein friedliches Europa. Geben Sie demokratiefeindlichen Parteien keine Chance. Frau Friedländer sagte als Antwort auf die Frage, warum sie nach Deutschland zurückgekehrt sei: „Es sind keine Täter mehr, es sind Kinder und Enkelkinder und ich spreche mit denen, damit so etwas nie wieder passiert‟. Wir schulden Margot Friedländer und allen Opfern von Krieg und Verfolgung ein solches Europa.
Ihr
Frank Tischner
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