Respekt: Eine Frage der Haltung
In den letzten Wochen haben die Nachrichten um die Firma Tönnies, die Ausbrüche des Corona-Virus unter den Werkvertragsarbeitern und deren Auswirkungen auf unser gesellschaftliches Leben die Nachrichtenlage bestimmt. Es ist bezeichnend, dass erst jetzt die menschenverachtenden Verhältnisse, unter denen die zumeist osteuropäischen Werkvertragsarbeiter leben und arbeiten müssen, angeprangert werden, obwohl diese schon seit langer Zeit bekannt sind. Genauso verhält es sich beim Tierwohl und den Umgang mit Lebensmitteln.
Seit Jahren kritisiere ich die Sonderangebote und das Verramschen von Nahrungsmitteln. Ich stimme nicht ein in den Chor derjenigen, die aufgrund der aktuellen Berichterstattung Veränderungen fordern. Nicht die augenblicklichen Verhältnisse haben den Skandal verursacht, nein, es ist eine Haltung, die es in unserer auf Maximaloptimierung ausgerichteten Gesellschaft schon lange gibt. Lebensmittel zu verramschen ist eine Form der Respektlosigkeit und kein Produkt der Umstände.
Wir schauen mit erschrockenen Augen den Fernsehbericht über Tönnies, Westfleisch & Co. an, gehen danach zum Kühlschrank und holen das plastikverpackte Hackfleisch für ein schnelles Abendessen heraus. Wir denken in Konstrukten, die völlig widersprüchlich sein können, aber finden das stimmig. Ich kann mich als Tierfreund sehen, weil ich meinen Hund liebe, aber esse gleichzeitig Billigfleisch und schiebe jeden Gedanken weg, wie Tiere ohne Tageslicht aufgezogen und Menschen wie Sklaven gehalten werden.
Die Corona-Krise mit dem Infektionsausbruch in den Schlachthöfen und Zerlegebetrieben zeigt uns, dass der Fehler im gesamten System liegt. Es ist leicht in Clemens Tönnies den skrupellosen und gierigen Kapitalisten zu sehen. Dabei haben er und sein verstorbener Bruder nur konsequenter und geschickter auf die Forderungen des Marktes reagiert als die meisten seiner Konkurrenten. In der Fleischindustrie gibt es optimierte Standards in allen Bereichen, von der Haltung, der Logistik, der Verarbeitung bis zum Abfall. Was aktuell vergessen wird: Zum System der betriebswirtschaftlich optimierten Abläufe und Verfahren in der Fleischverarbeitung gehören auch die Discounter und deren Kunden, wobei ich einkommensschwache Familien hier ausdrücklich ausklammern möchte. Auch vor Corona war schon klar, dass in dieser Branche vieles im Argen liegt und sich hier dringend etwas ändern muss. Und eben dort nicht alleine. Genauso ist ein Umdenken notwendig bei dem Verbraucher, dem Landwirt, der die Tiere züchtet, sowie bei den großen Einzelhandelsgruppen, die mit Knebelverträgen Lebensmittelproduzenten zu möglichst kostensparenden Produktionsverfahren zwingen. Müssen wir uns nicht auch an die eigene Nase fassen, wenn wir ernsthaft glauben, dass ein Schnitzel in den Toaster gehört?
Seit Jahrzehnten wissen Politik und Verbraucher von den Bedingungen der Tierhaltung und des Transports, von den Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen, in denen 30.000 Schweine am Tag zur Schlachtbank geführt werden, und von den Umweltschäden, die durch den enormen Futtermittelanbau für das Nutzvieh entstehen.
Blicken wir zurück in das Jahr 2000. Nachdem bei den ersten Tieren BSE, der sog. „Rinderwahnsinn“ festgestellt wurde, wie reagierte man in der Politik? Bundeskanzler war seinerzeit Gerhard Schröder, sofort wurden zwei Bundesminister (BM Fischer und BM Funke) entlassen und es wurde die „Agrar-Wende“ versprochen – weniger Masse, mehr Nachhaltigkeit und Bio. Warum sind aktuell alle Parteien mit gegenseitigen Schuldzuweisungen sehr vorsichtig, gerade vor dem anstehenden Kommunalwahlkamp in NRW? Auf Bundesebene und in den Bundesländern NRW, Niedersachsen und Bayern, also den Bundesländern mit dem höchsten Anteil an fleischverarbeitender Industrie, hier haben schon Minister von SPD, CDU, CSU und Grüne das Amt der/des zuständigen Ministers/-in für Ernährung und Landwirtschaft bekleidet und es hat sich nichts geändert. Daher ist das „fingerpointing“, jedenfalls politisch gesehen, nicht ganz einfach.
Wenn man sich aber die kranken Strukturen in diesem System ansieht, dann ist es offensichtlich, dass ein stärkerer staatlicher Eingriff nötig ist. Diese Forderung nach der Intervention durch den Staat von einem Vertreter eines Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbandes für den Mittelstand mag auf den ersten Blick verwundern, aber wird verständlich, wenn man sich bewusst macht, dass alles, was jetzt eingefordert wird, von der mittelständischen Wirtschaft längst umgesetzt wurde: Regionalität, Nachhaltigkeit, vernünftige Bedingungen und sichere Jobs für Arbeitnehmer – und dies trotz einem Übermaß an Bürokratie und oftmals der Verkennung dieser Leistungen.
Wer glaubt, dass eine freiwillige Selbstverpflichtung der Fleischindustrie oder des Lebensmittelhandels uns hier weiterhelfen wird, der glaubt auch noch an das Sandmännchen. Eines sollten wir uns bewusst machen: Politik kann verändern, Leitplanken setzen und bestimmen, aber man kann sich nicht dauerhaft gegen Wünsche der Wählerschaft und Verbraucher stellen. Ich bin definitiv dagegen, diese Probleme anzugehen, indem man einfach die Preise erhöht. Die Menschen essen nicht weniger Fleisch, nur weil es 20 Cent mehr kostet. Mit Abschreckung funktioniert die Verhaltensänderung nicht. Und auch die Produktionsbedingungen ändern sich nicht automatisch. Höhere Fleischpreise werden dazu genutzt, dass sich die Margen von Industrie und Lebensmitteleinzelhandel erhöhen. Daher brauchen wir neue Gesetze und eine direkte Herangehensweise an die Probleme, z.B. mit einer zweckgebundenen Abgabe für mehr Tierwohl und bessere Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Aber wir brauchen als Verbraucher vor allem eine andere Einstellung.
Ihr Frank Tischner