Europa? – Alternativlos gut!

Vor zwei Wochen hat mir meine Mutter ein Foto meines Großvaters gezeigt, der im Zweiten Weltkrieg sein Leben gelassen hat. Im Alter von nur 42 Jahren ist er kurz vor Ende des Krieges in Griechenland gefallen – und ließ seine Familie allein zurück. Sie fragen sich, was dieser Einstieg mit dem Titel meines heutigen Blogs zu tun hat?

Als ich unserem Sohn das Foto gezeigt habe, war die Betroffenheit bei ihm groß, dass sein Ur-Opa sein Leben als Soldat in einem Krieg verloren hat. Mehr als 70 Jahre Frieden in Europa – wissen wir eigentlich zu schätzen, was das wirklich heißt?

Wir ärgern uns oft zu Recht über zusätzliche bürokratische Hürden und sinnlose Gesetze in der EU, aber wenn man alle Vor- und Nachteile in die Waagschale wirft, wie schwer wiegt denn dann bitteschön eine „friedliche Gemeinschaft von Staaten“?!

Angesichts des Hick-Hacks in Großbritannien weiß heute noch niemand ganz genau, wie das traurige EU-Kapitel „Brexit“ für Briten und EU-Bürger zu Ende geht. Eines aber weiß ich jetzt schon sicher: Von Happy End kann bestimmt keine Rede sein. Experten sprechen von einer „lose-lose-Situation“ für Großbritannien und die EU. Populisten haben es geschafft, mit einer einfachen und billigen Rhetorik, verbunden mit Lügen, die Bevölkerung in Großbritannien zu verunsichern und zu verängstigen. Mit falschen Zahlen hat man Horrorszenarien aufgebaut und die eigene Bevölkerung angelogen. Wo sind die Politiker heute, die die Situation zu verantworten haben? Stehen sie noch zu ihrer Verantwortung? Nein, sie haben sich aus dem Staub gemacht und einen Trümmerhaufen hinterlassen – shame on you!

Brexit hin oder her – gut 60 Jahre nach Gründung der damaligen Europäischen Wirtschaftsunion (EWG) ist es salonfähig geworden, über Europa zu klagen. Doch wenn ich so manchem Zeitgenossen beim Europa-Bashing zuhöre, verspüre ich ein unangenehmes Ziehen im Magen.

Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Natürlich ist in der EU nicht alles perfekt und der zuweilen überbordende Bürokratismus schreckt Verantwortliche der Mitgliedsstaaten wie Bürger gleichermaßen ab. Und: Klar kostet Europa viel Geld. Aber ich bin fest überzeugt: Kein gemeinsames Europa kostet noch viel mehr Geld! Trotz aller Makel: Es gibt keine annehmbare Alternative zur Europäischen Union!

Einen hohen Preis für ein uneinheitliches Europa haben vorangegangene Generationen über Jahrhunderte hinweg immer wieder bezahlt:

Zum Beispiel in wirtschaftlicher Hinsicht. Können Sie sich heute noch vorstellen, was es noch vor wenigen Jahrzehnten an Zeit und Geld gekostet hat, Produkte nach Frankreich, Italien oder Portugal zu exportieren oder von dort zu importieren? Wie viele Reibungsverluste das Handling mit mehr als 20 verschiedenen Währungen auf unserem Kontinent gekostet hat? Wie viele Stunden eine Urlaubsreise ins europäische Ausland allein aufgrund von Grenzkontrollen gekostet hat? Wie viel Nerven und Formalitäten ein Austauschjahr der heranwachsenden Kinder im europäischen Ausland gekostet hat? Dass es nur unter allergrößten bürokratischen Hürden möglich war, im Nachbarland zu arbeiten? Und vor allem: Wie wenig Austausch in wirtschaftlicher wie auch gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht in Europa überhaupt möglich war?

Den höchsten Preis für ein uneiniges Europa haben aber die Menschen im 20. Jahrhundert gezahlt. Abermillionen von Frauen, Männern und Kindern hat die Uneinigkeit Europas im Ersten und Zweiten Weltkrieg das Leben gekostet – wie eingangs beschrieben, auch meinen Großvater. Und auch in den Jahrzehnten und Jahrhunderten zuvor lähmten unzählige kriegerische Auseinandersetzungen die Entwicklung von Wohlstand und Bildung für alle Bürger des Kontinents.

Als Europa 1945 in Schutt und Asche lag, als das Ausmaß des Holocausts sichtbar wurde, als die Verwundungen einer ganzen Generation von Europäern deutlich wurden, machten zwei Wörter die Runde: „Nie wieder!“

Aus diesem „Nie wieder“ nahm schließlich eine Entwicklung ihren Lauf, die mir noch heute eine Gänsehaut bereitet: Die Erbfeinde Deutschland und Frankreich wurden Brüder, Nord- und Südeuropa rückten zusammen – und mit dem Fall der innerdeutschen Mauer und dem Ende des Kalten Krieges schien ein pazifistisches Märchen wahr zu werden.

Letztlich waren es belastbare und vertrauensvolle Beziehungen zu den Nachbarstaaten, die den wirtschaftlichen Wohlstand in Europa für so breite Bevölkerungsschichten erst ermöglichten. Kritiker mögen jetzt einwenden, dass dieser Wohlstand nicht alle Mitgliedsstaaten und EU-Bürger gleichermaßen erreicht. Das mag in Teilen richtig sein. Und sicher müssen sich die EU-Staaten intensiv mit der Frage nach sozialer Gerechtigkeit auseinander setzen. Aber glauben Sie wirklich, dass es den Menschen in Italien, Frankreich, Polen, Ungarn und Deutschland auch nur einen Deut besser ginge ohne die EU?

Klar kann man das einfach frech behaupten und mit unwahrem Zahlen- und Datenmaterial unterlegen. Denn – ganz nebenbei erwähnt – gehört für manch fragwürdige Polit-Größe inzwischen ja auch ein schnoddriger Umgang mit Fakten zum guten Ton des internationalen Austausches. Doch wohin die Lügerei mit wirtschaftlichen Kennzahlen tatsächlich führt, werden die Unternehmen und Bürger in Großbritannien – und gewiss auch im übrigen Europa – in den kommenden Jahren am eigenen Leib erfahren. Nach Wohlstand und stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen sieht das, was sich derzeit in Großbritannien vollzieht, ganz gewiss nicht aus.

Die schwierige Lage in Europa und die aktuelle „America First“-Politik des US-Präsidenten zeigen: Frieden, Freiheit und Wohlstand sind äußerst fragile Gebilde. Letztlich müssen die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft kontinuierlich daran arbeiten, diese zu schützen und zu bewahren.

Und auch die Bürger können daran ein ganz gutes Stück mitwirken. Zum Beispiel in diesem Jahr, da im Mai die Wahl zum EU-Parlament ansteht. Wer leichtfertig den populistischen Schreihälsen und deren einfachen Wahrheiten seine Stimme (ver-)schenkt, gefährdet das Fundament, auf dem unsere Demokratie und unser Wohlstand beruhen. Daher ein klarer Appell für ein vereintes Europa und für eine starke Wirtschaftsmacht, die uns weiterhin die Möglichkeit gibt, vereint in einem friedlichen Europa zu leben und der nächsten Generation kein Trümmerfeld zu hinterlassen.

Ihr

Frank Tischner

Rückmeldungen gerne unter feedback@handaufsherz.blog