Haben wir uns verrechnet?
„Schulen machen aus neugierigen Kindern angepasste Erwachsene“ – das Zitat ist nicht von mir, doch unterschreibe ich es sofort.
Alles ausprobieren, täglich auf Entdeckungsreise gehen, dabei hinfallen, immer wieder aufstehen – das alles ist im Kindesalter normal. Doch spätestens mit dem Tag der Einschulung ist in unserem deutschen Bildungssystem dafür, trotz aller engagierten Pädagogen, oftmals kein Platz mehr. Schade, denn ich bin der Meinung, dass junge Menschen für den Einstieg ins Berufsleben genau diese Kompetenzen benötigen: Kreativität, Eigeninitiative, Durchhaltevermögen und den Mut, auch nach persönlichem Scheitern, wieder Neues zu wagen. „Wieder auf die Füße fallen und das Krönchen zurechtrücken“ – das sollte das Motto sein. Doch lernen Kinder dies in unserem in die Jahre gekommenen Bildungssystem? Ein System, das sich kaum verändert hat, seitdem ich selbst die Schulbank drücken durfte? Gut, inzwischen gibt es in (ein paar) Schulen Tablets statt Kreidetafel und Schwamm. Aber es geht doch um die Inhalte! Wenn wir immer nur den einen Rechenweg zulassen, dürfen wir uns nicht wundern, dass unsere Gesellschaft sich am Ende verrechnet hat und wir das Nachsehen haben werden.
In die gleiche Richtung geht die jüngste Entscheidung zur Anpassung der Bundesjugendspiele. Künftig sollen diese jährlich „nur noch als bewegungsorientierter Wettbewerb ausgetragen werden und nicht mehr als leistungsorientierter Wettkampf“. Ernsthaft? Auch in meiner Schulzeit gab es die sportlichen und die weniger sportlichen Kinder. Und ja, es gab immer auch mindestens ein Kind, das gänzlich unsportlich war und es deswegen nicht immer leicht hatte. Doch wem tun wir jetzt einen Gefallen, wenn wir diesen spielerischen Sportwettbewerb um Sieger- und Ehrenurkunde abschaffen? Wie sollen die Kinder denn lernen, dass man nicht immer gewinnen kann und sie vielleicht nicht in jeder Lebenslage so super sind, wie Mama, Papa, Oma und Opa es ihnen doch täglich mehrere hundert Mal bestätigen?
Spätestens im Berufsleben, z. B. mit der Aufnahme einer betrieblichen Ausbildung, kommt dann das große Erwachen. Wenn dem Azubi gesagt wird, dass er etwas nicht richtig gemacht hat, dass Zuspätkommen nicht akzeptiert wird oder dass es nicht gut ankommt, auf der Arbeit ständig das Handy in der Hand zu haben. Das Problem: Jugendliche heutzutage sind kaum noch kritikfähig. So erlebe ich es. Wie sollen sie auch lernen, mit Kritik umzugehen, wenn sie bis zum Start ins Berufsleben niemand konstruktiv kritisiert? Hier sind vor allem die Eltern gefragt. Doch anstatt, dass sie unterstützen, diskutieren sie im schlimmsten Fall noch mit Lehrkräften und Ausbildungsbeauftragten über den Umgang mit ihren Schutzbefohlenen. Einer der Gründe, warum wir so viel Werbung für Praktika und mehr Raum in Schulen für entsprechende Praktikumszeiten machen.
Generationsforscher Rüdiger Maas bringt es in seinem Vortrag für die Kreishandwerkerschaft Steinfurt Warendorf auf den Punkt: „Wer junge Menschen für das Unternehmen gewinnen möchte, muss immer ihre Eltern als die größten Fans mitdenken“, sagt er über den Umgang mit der überbehüteten Generation Z. Wenn z. B. der Vater einer dreijährigen Tochter, bereits mehr als 6.000 Fotos von seinem Kind erstellt hat, bringt er seinem Kind mit jedem Foto bei, dass immer, wenn das Handy zwischen Vater und Tochter steht, ein unbewusster Belohnungseffekt eintritt. Das macht etwas mit den Kindern. Achten Sie doch mal in Ihrem Umfeld darauf, wie schon Kleinkinder posieren und ein Lächeln aufsetzen, wenn ein Handy hochgehalten wird. Die Kritikunfähigkeit ist meiner Meinung nach daher nicht ausschließlich ein Bildungsproblem, sondern steht in engem Zusammenhang mit den Elternhäusern und ist auch als ein gesellschaftliches Problem einzuordnen.
Daher wünsche ich mir ein reformiertes Bildungssystem für unsere Kinder, in dem sie bereits als junge Menschen lernen, sich auszuprobieren und dabei ihre Stärken UND Schwächen erkennen. Denn das ist der erste Schritt, um für das eigene Leben zu entscheiden, was man später beruflich machen möchte. Oder wie es Arbeitsminister Laumann kürzlich formulierte: „Wir müssen es hinkriegen, dass junge Menschen eher wissen, was sie wollen.“ Auch diesen Satz unterschreibe ich und bin mir nach den Gesprächen mit den Auszubildenden in der Kreishandwerkerschaft sicher, dass junge Menschen sich dann wertgeschätzt und gesehen fühlen und vor allem erfolgreich sind, wenn man sie einfach mal machen lässt. Und zu dieser Freiheit gehören eben auch Fehlstarts, Linienübertretungen und die ein oder andere kleine Blessur.
Eben das echte Leben, auf das wir sie bestmöglich vorbereiten sollten. Im Arbeitsleben braucht es zwar später keine Sieger- und Ehrenurkunden, aber die immens wichtigen Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend.
Haben wir uns also verrechnet? Die gute Nachricht: Fehler lassen sich korrigieren und wir müssen endlich verstehen, dass Bildung kein Kostenfaktor, sondern eine Investition in die Zukunft ist. Und es gibt nie nur den einen Lösungsweg. Was wir also brauchen ist Mut zur Veränderung, Kompromissbereitschaft bei Lehrer- und Elternverbänden, Gewerkschaften und Schülervertretungen, aber natürlich auch auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Oder habe ich da einen Denkfehler?
Ihr Frank Tischner