Kontrovers ist das neue Konstruktiv
Letzte Woche ist der SPD-Politiker Thomas Oppermann verstorben. Ich hatte das Glück, ihn persönlich kennenzulernen und habe ihn und seine Art sehr geschätzt. „Demokratie lebt vom Streit“ einer seiner vielen treffenden Anmerkungen. Doch so gerne ich in einer Demokratie lebe, so ungern streite ich mich mit Menschen. Diskutieren – ja, das mache ich mit Leidenschaft. Meine Position als Hauptgeschäftsführer einer Kreishandwerkerschaft bringt mich jeden Tag mit den unterschiedlichsten Menschen zusammen. Ich mag es, mit ihnen zu sprechen, ihnen zuzuhören und dabei ihre Meinung zu erfahren. Warum? Weil ich es spannend finde, wie sie die Dinge sehen. Gleichzeitig möchte ich aber auch, dass mir zugehört wird, wenn ich über Dinge spreche, die mir wichtig sind und die ich voranbringen möchte.
Mit fremden Menschen spricht man nicht über Geld, Religion oder Fußball. Kennen Sie das auch noch von früher? Heute gilt das wohl eher für Themen wie den Brexit, Corona und die Flüchtlingspolitik. Und natürlich habe ich Trump vergessen, obwohl wir uns in Deutschland da doch größtenteils einig sind. Von generellen Tabuthemen, die natürlich wohl abgewogen werden müssen, halte ich persönlich nicht viel. Ich bin der Überzeugung, dass man grundsätzlich mit jedem Menschen über alles vernünftig sprechen kann. Und gerade, wenn der- oder diejenige andere Ansichten vertritt, wird es doch erst richtig spannend. Noch spannender wird es, wenn ich zu öffentlichen Diskussionen eingeladen werde und man die Reaktion des Publikums sieht. Nach einer dieser Diskussionen schrieb der Redakteur in seiner Nachberichterstattung in der Überschrift „Klartext in Sachen Wertschätzung“. Dann habe ich mein Ziel erreicht.
Aber, wo treffen wir uns heutzutage überhaupt noch zum Diskutieren? Wo treffen sich die Menschen, gerade in Zeiten der Corona-Pandemie? Wird in den sozialen Netzwerken wirklich diskutiert wie sonst nirgendwo oder wird nur Stimmung gemacht? Bleiben wir beim Beispiel Corona: Die einen versuchen aufzuklären, die anderen protestieren gegen getroffene, Freiheiten einschränkende Maßnahmen und andre wiederum steigern sich in Verschwörungstheorien. Und vermutlich lesen andere mit, denken sich ihren Teil, aber beteiligen sich nicht an der Diskussion.
Nicht erst mit dem Thema Corona ist der Ton im Netz schärfer geworden. Es ist weniger sachlich, sondern emotionaler und polarisierend. In den sozialen Medien gibt es für jede Meinung zig Gleichgesinnte, die sich zusammenfinden und mit gesteuerten Kommentaren auch ein vermeintliches Meinungsbild unter Beiträgen hinterlassen können. Kontrolliert dies jemand?
Gespräche, wenn man diese Wortgefechte denn so bezeichnen will, eskalieren und wer am Ende die meisten Likes unter einem Kommentar hat, gewinnt. Extreme Unzufriedene schaukeln sich so gegenseitig hoch, bilden Lager und bekommen auf Facebook und Co. die Bestätigung, die sie suchen. Das Problem: Alles geht schnell, auf Wunsch ist man anonym, bedient sich irgendwelcher Phantasieaccounts und „haut raus“ was das Zeug hält, ohne sich dabei in die Augen zu sehen – alles andere als förderlich für ein konstruktives Gespräch auf sprichwörtlicher Augenhöhe.
Gesprächsbereitschaft ist der Anfang von allem, dies sollte zumindest bei Profis angekommen sein. Somit sind wir bei den USA und den morgen stattfindenden Präsidentschaftswahlen.
Stellen Sie sich vor, Biden hätte das zweite TV-Duell mit Trump abgesagt. Nicht, weil er berechtigte Sorge vor einer Ansteckung hatte, sondern aus der Überzeugung heraus, es brächte ohnehin nichts? So funktioniert Diskussionskultur nicht. Einen demokratischen Diskurs ablehnen, weil es sowieso nichts bringt, ist der falsche Ansatz. Doch wenn rote Linien überschritten werden, kann die ursprüngliche Gesprächsbereitschaft erlöschen. Das sind Erfahrungen, die ich selber machen musste oder durfte. Ob in Jahresgesprächen mit den größten Lebensmitteleinzelhändlern der Welt oder auch mit anderen schwierigen „Partnern“. Ich gebe zu, auch ich habe mit einigen alternativen Parteien meine Schwierigkeiten und nach alufarbenen Kopfbedeckungen steht mir auch nicht der Sinn.
Morgen geht hoffentlich die Ära des Populisten Donald Trump zu Ende. Mit seinen unzähligen Lügen, Übertreibungen und Twitter-Kanonaden hat er nicht nur seinem eigenen Land, sondern der ganzen Menschheit großen Schaden zugefügt, der vielleicht nie mehr ganz behoben werden kann. Fakten wurden „Fake News“ und Unwahrheit Staatsdoktrin. Wer nicht für ihn ist, auch wenn man ein erwiesen anerkannter Sachverständiger ist, wird zum Feind erklärt. Seine Unterstützer brüllen alles nieder und bedrohen Andersdenkende mit Waffen. Dies lässt mich an eine Zeit in Deutschland vor 80 Jahren denken.
Mein Wunsch wäre, dass wir alle mehr Zivilcourage zeigen – in der digitalen ebenso wie in der realen Welt. Diskutieren Sie, ob in der virtuellen oder der realen Welt. Lassen Sie im Netz doch einfach mal ein Like für ein Kommentar da, um den Autor oder die Autorin zu bestärken oder stellen Sie eine Falschaussage richtig, wenn sie es besser wissen. Auf Gegenwind sollte man in jedem Fall vorbereitet sein. Die sogenannten Trolle gibt es online leider ebenso wie im echten Leben.
Übrigens: Sich bewusst nicht zu äußern kann auch ein sehr gewichtiges Statement sein.
Produktiv ist ein Streit meiner Meinung nach, wenn man mit Andersdenkenden diskutiert und dadurch wertvolle Impulse für das eigene Denken und Handeln erhält. Auch das ist ein Erkenntnisgewinn. Denn wenn alle mir nur zustimmen, bringt mich das nicht weiter.
Egal, ob beim Nachbar, der ein Maskenmuffel ist oder bei der Facebookfreundin, die in letzter Zeit immer so seltsame Videos postet. Schauen Sie einfach mal, wo sie einen Anfang machen können. Sprechen Sie doch ganz bewusst mal mit jemandem über ein Thema, mit dem sie vermutlich nicht einer Meinung sind. Und dann seien Sie offen, hören Sie aktiv zu und diskutieren Sie mit. Gerne kontrovers, aber konstruktiv.
Ihr Frank Tischner