Wertschätzung durch Freispruch

Frei- oder Lossprechung? Was macht Ihr denn im Handwerk? Das ist die Frage, die ich oft im Bekanntenkreis gestellt bekomme, wenn ich erzähle, welche tollen Veranstaltungen wir zweimal im Jahr im Kreis Steinfurt und im Kreis Warendorf haben. Zu Beginn und im Sommer eines Jahres haben in unserem Verantwortungsgebiet jeweils ca. 500 Jugendliche, d.h. fast 1.000 im Jahr, die ihre Prüfungen in einem der vielen handwerklichen Berufe bestanden haben. Die Kreishandwerkerschaft Steinfurt-Warendorf feiert diesen besonderen Moment und die Überreichung der Gesellenbriefe dann mit einer Frei-, bzw. Lossprechungsfeier. Diese Bezeichnung hat ihre Wurzeln in den mittelalterlichen Gilden und Zünften, in denen die Lehrlinge nach der Ausbildung „von den Bindungen des Lehrvertrages frei- oder losgesprochen wurden“. Nun kann man darüber streiten, ob die Bezeichnungen noch zeitgemäß und nicht in die Jahre gekommen sind. Aufgrund der Traditionen im Handwerk bin ich ein großer Befürworter dieser Veranstaltungen und auch dieser Bezeichnung der „Freisprechungsfeier“.

Natürlich leben wir in anderen Zeiten und es gibt bei einer Ausbildung einen anderen rechtlichen Hintergrund. Heute sind Rechte und Pflichten in einem Ausbildungsverhältnis durch einen Vertrag geregelt, und die Auszubildenden haben hinsichtlich Vergütung, Arbeitszeiten, Freistellungen für die Berufsschule oder die überbetrieblichen Lehrgänge eine Vielzahl von Rechten. Heute bekommen Lehrlinge eine Ausbildungsvergütung und müssen kein Kostgeld mehr an denn Lehrherrn zahlen. Natürlich gab seit jeher auch Pflichten, die sich aus dem Lehrverhältnis erwuchsen. Während sich aber heute die Pflichten der Azubis durch das Arbeitsrecht definiert sind, musste der Lehrling eines Zunftmeisters eine Ahnenprobe nachweisen, dass er und seine Familie aus ehelichen Verhältnissen stammen und von „freier Geburt“ sein und nicht „unehrlichen“ Ständen wie die der Zöllner, Schäfer oder Nachtwächter angehören. Das männliche Geschlecht war damals sowieso Grundvoraussetzung. Wenn also ein Zunft-Lehrling nach dreijähriger Lehrzeit von den Bindungen des Lehrvertrages freigesprochen wurde, dann war dies wirklich eine Befreiung. Unsere heutige Frei- oder Lossprechungsfeiern sind hingegen ein würdiger Abschluss der Ausbildungszeit, eine Anerkennung der erfolgreich abgelegten Prüfung und damit Ausdruck einer besonderen Wertschätzung gegenüber den Auszubildenden, den Ausbildungsbetrieben und auch der ehrenamtlichen Prüfer der Innungen.

Diese Besonderheit zeichnet uns im Handwerk aus. In vielen anderen Bereichen werden Prüfungszeugnisse als „Verwaltungsakt“ per Post versandt oder können in einem nüchternen Büro  einer Schule oder Kammer  abgeholt werden –  nicht aber bei uns. Was mir nach den Veranstaltungen immer wieder zurückgespielt wird, ist die Anerkennung, dass wir in einem festlichen Rahmen und mit einem hohen Maß an Wertschätzung die Übergabe der Prüfungszeugnisse vornehmen, und wie positiv dieses bei den Jugendlichen ankommt. Diese Freisprechungsfeiern sind ein weiteres Beispiel zu dem Spagat den wir tagtäglich leisten müssen: Eine nicht immer einfache  Kombination von Tradition und Moderne.

Bei unserer letzten Freisprechungsfeier in Rheine hatten wir als Talk-Gast Carsten Cramer, den Geschäftsführer für den Bereich Marketing vom BVB. Anschließend hat unser #craftface Sarah über die Social Media-Aktivitäten berichtet und der WDR-Köln hat die Freisprechungsfeier genutzt, um die Jugendlichen unserer Youth Craft Factory zu begleiten. Natürlich saßen im Publikum auch Ehrenobermeister, Großeltern und auch Menschen, denen der Begriff einer „Freisprechungsfeier“ geläufiger ist als Begriffe wie „Social Media“, „Online-Marketing“, „YouthCraftFactory“ oder „craftface“. Dessen bin ich mir durchaus bewusst.

Dieses Spannungsfeld müssen und wollen wir aushalten, denn wir sind uns unserer Tradition bewusst, aber selbstverständlich wollen und müssen wir uns offen den Veränderungen der neuen Lebens- und Arbeitswelten stellen. Aufgrund des Feedbacks und der vielen Gespräche die ich führen darf, kann ich an dieser Stelle behaupten, dass uns das in den letzten Jahren sehr gut gelungen ist.

Die Frei- oder Lossprechungsfeiern haben sich natürlich in ihrer Zielsetzung gewandelt. Wir, die Innungen und Kreishandwerkerschaft als Arbeitgeberverbände im Handwerk, sagen mit einer solchen Feier am Ende der Ausbildung den jungen Menschen: „Ihr seid uns wichtig. Wir erkennen Eure Leistungen an. Wir freuen uns mit Euch.“ Damit steht das Handwerk in einer anderen alten Tradition, nämlich der einer Werte- und Arbeitsgemeinschaft, die auch durch die vielen Familienbetriebe im Handwerk begründet wird.

Und die jungen Gesellinnen und Gesellen und deren Eltern spüren und freuen sich über diese Form der Anerkennung. Auch wenn nicht jeder Redebeitrag auf der Feier einen fesselt und nicht jedes Musikstück den Geschmack aller trifft: hier erfahren die jungen Handwerkerinnen und Handwerker, dass wir uns viel Mühe geben, das Erreichen der ersten wichtigen Station auf dem Berufsweg, die erfolgreiche Gesellenprüfung, zu einem erinnernswerten Erlebnis zu gestalten.

Unsere Freisprechungsfeiern bedeuten keine „Befreiung“, sie sind vielmehr ein Abschied aus dem noch behüteten Lehrverhältnis und ein Willkommen in die „erwachsene“ Berufs- und Arbeitswelt, wo die neuen Gesellinnen und Gesellen nun selbst Verantwortung für sich selbst und andere übernehmen müssen.

Ihr

Frank Tischner

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